Nach dem Ersten Weltkrieg, 1918, zerfiel neben Österreich-Ungarn auch das Osmanische Reich in einzelne Staaten. Aus dem Kernland des einstigen Vielvölkerreiches wurde durch Massenmord und Assimilierungspolitik versucht, einen homogenen türkischen Nationalstaat zu bilden – mit gravierenden Folgen für die Minderheiten.
Sehr viele DeutschtürkInnen wissen nur wenig über die Entstehungsgeschichte des türkischen Nationalstaates und die damit einhergegangene Assimilierung, Unterdrückung sowie Vernichtung von Minderheiten. Auch mir erging es in meiner Kindheit und frühen Jugend nicht anders bezüglich der Unkenntnis über die vielen Barbareien. In den schulischen Geschichtsstunden sensibilisierte ich mich für die Unterdrückung von Minderheiten, insbesondere der von JüdInnen in Europa. Bücher, Dokus, Filme und reale Zeugnisse aus jener Zeit verschärften bei mir den Blick auf das große Verbrechen zusätzlich. In Deutschland wird man zu Recht scharf kritisiert, wenn man den Völkermord relativiert oder gar leugnet, zumal die eigene Geschichte mit großem Engagement aufgearbeitet wird. In der Türkei wird man allerdings angefechtet, wenn man den Völkermord und die Zwangsassimilation erst thematisiert. In türkischen Schulen wird darüber nicht aufgeklärt, sondern die Taten werden verschwiegen und geleugnet.
Die Kindheit und die Indoktrination
Ich hatte in meinem Umfeld und aus türkischen Quellen bis zu meiner mittleren Jugendzeit gelernt, dass es den Völkermord an den ArmenierInnen nicht gab und von der Assimilationspolitik hatte ich erst recht nichts gehört. Als ich vom brutalen Vorgehen im Osmanischen Reich und der Türkei las, wollte ich es zunächst nicht wahrhaben, da mir seit meiner Kindheit ein heroisiertes Bild über die Türkei vermittelt wurde. Wenn Menschen derart indoktriniert werden, antworten die meisten auf die Frage, ob es einen Völkermord im Osmanischen Reich gab, mit einem selbstverständlichen „Nein” und entgegnen mit bekannten Relativierungen, die seit mehreren Jahrzehnten einen Grundsatz der türkischen Innenpolitik im Umgang mit Minderheiten bilden. Als ich das erste Mal über die vielen Massaker diskutierte, war ich zunächst überrascht auf die genervten Kommentare der Nichttürken zu meinen Relativierungen. Erst in einem längeren Prozess des Recherchierens, Hinterfragens und Diskutierens wurde mir das Ausmaß der Vernichtung und Unterdrückung bewusst. Aufgrund der Intensität der Indoktrination erforderte es viel Zeit, sich diesen Themen klärend zu widmen. Denn zum einen bestand eine starke emotionale Bindung zum türkischen Staat, zum anderen relativiert und leugnet die Mehrheit der türkischen HistorikerInnen und IntellektuellInnen mit medialer Reichweite weitgehend den Völkermord sowie andere Gräueltaten mit eigenen Argumenten und Belegen. Dem Einzelnen bleibt oft nichts anderes übrig, als sich die Informationen selbst zu beschaffen. So will ich meinen Teil zur Aufklärung beitragen.
Der Untergang eines Reiches und der Genozid
Das Osmanische Reich litt bis zum Ersten Weltkrieg massiv an Gebietsverlusten und sah diesen Krieg als Gelegenheit, um einerseits als Regionalmacht bestehen zu bleiben und andererseits um Minderheiten, die sich im aufkeimenden Nationalismus abspalten könnten, auszulöschen oder zwangszuassimilieren. Folglich nahm die Gewalt an diesen Gruppen, insbesondere den ChristInnen, gewaltig zu. 1915 begann der Völkermord an den ArmenierInnen. Das Deutsche Reich war im I. WK Verbündeter des Osmanischen Reichs und hatte Botschafter, Militär und viele Informanten vor Ort, womit es bestens informiert war über die dortige Situation der Minderheiten. Der Deutsche Botschafter von Wangenheim meldete dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Die Umstände und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigten, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“1 Des Weiteren schrieb er: „[…]daß die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, da die Türkei auf diese Weise gestärkt würde.”2
Die Haltung des Reichskanzlers war eindeutig: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darob Armenier zugrunde gehen oder nicht.“3
Ende August 1915 verkündete Talat Pascha, einer der Hauptverantwortlichen des Völkermordes, an die Deutsche Botschaft in Konstantinopel: „Die armenische Frage existiert nicht mehr.“4
Einige Dokumente aus dem Deutschen Bundesarchiv und eine Zusammenfassung des Völkermordes findet ihr hier
Über eine Million ArmenierInnen, aber auch GriechInnen, AramäerInnen und JesidInnen starben an diesem Genozid. Hunderttausende flüchteten ins Exil. Das bunte Anatolien, das so reich an Vielfalt und Kultur war, wurde ausgelöscht. Die Minderheiten wurden nach ihrer Vertreibung zugleich enteignet. Die lokalen BewohnerInnen und allen voran die Bourgeoisie waren die größten NutznießerInnen dieser Enteignungen.
Was mir in nationalistisch-konservativen Kreisen immer wieder zu Ohren kam, waren die unsäglichen Worte „Kılıç artığı”, die wörtlich mit „Schwertreste” übersetzt werden können und damit die Überlebenden der Massenmorde meinen, die entweder verschont wurden oder fliehen konnten. Mit diesen verächtlichen Worten beschreiben Menschen aus jenem Spektrum primär oppositionelle ArmenierInnen und AlevitInnen. Es gab Überlebende, aber auch eine andere große Minderheit, die vom Staat nun stärker ins Visier genommen wurde: die KurdInnen.
Nach dem verlorenen I. WK zerfiel das Osmanische Reich in unzählige Stücke. Der Nationalismus, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf der Weltkugel grassierte, hatte die Türkei nach dieser Schmach fest im Griff. Sie wurde zu einem Nationalstaat, der eine Homogenität in der Bevölkerung anstrebte.
Der Nationalstaat und die Assimilierung
Der Nationalismus sollte das Fundament des neu gegründeten türkischen Nationalstaates bilden. Auf Kosten der Minderheiten.
Ismet Inönü, Ministerpräsident (1923-1937): „Wir sind eindeutig Nationalisten … und der Nationalismus ist unser einziges verbindendes Element. Andere Volksgemeinschaften haben in der türkischen Mehrheit keinen Einfluss. Unsere Pflicht ist es, Nichttürken innerhalb der türkischen Heimat zu Türken zu machen. Wir werden jene auslöschen, die sich den Türken und dem Türkentum widersetzen.”5
Mahmut Esat Bozkurt, Justizminister (1924-30): „Der schlechteste Türke ist besser als der beste Nichttürke.” – „Wer nicht von rein türkischer Abstammung ist, hat in diesem Land nur ein Recht: Diener zu sein, Sklave zu sein.“6
Şükrü Kaya, Innenminister (1927-30): „Warum sollten wir weiterhin Memet der Kurde, Hasan der Tscherkesse oder Ali der Lase sagen? Das zeigt nur die Schwäche des dominierenden (türkischen) Elements. Wenn jemand das Gefühl hat, unterschiedlich zu sein, tilgen wir dieses Gefühl sowohl in den Schulen als auch in der Gesellschaft.”7
Die Ethnien der KurdInnen, TscherkessInnen, LasInnen und all der anderen durften ab 1925 tatsächlich nicht mehr erwähnt werden. Allein die Aussprache dieser Wörter wurde verboten. Nicht nur das, die Existenz dieser Ethnien wurde nun in Frage gestellt und ihre Sprachen verboten. Kurdisch, die Sprache der größten Minderheit, konnte erst 1991 wieder ohne die Befürchtung einer Strafe gesprochen werden.
Dr. Resit Galip, Bildungsminister (1932-33): Er verfasste ein Gelöbnis, das von SchülerInnen vor der ersten Stunde auf dem Schulhof, bei jeder Wetterlage, laut posaunt werden musste. Version 1933:
„Ich bin Türke, ehrlich und fleißig. Meine Pflicht: meine Jüngeren zu beschützen, meine Älteren zu respektieren, mein Land und meine Nation mehr zu lieben als mich selbst. Mein Ideal: aufzusteigen und voranzugehen. Möge meine Existenz ein Geschenk an die türkische Existenz sein.”
1972 gab es Ergänzungen. Eine davon ist der letzte Satz, der von Kemal Atatürk formuliert wurde: „Wie glücklich ist derjenige, der sagt, ich bin ein Türke”
Auch wenn mit dieser Losung von Kemal Atatürk die Staatsbürgerschaft gemeint war, ist sie durchaus kohärent mit der Assimilationspolitik. Dieses Gelöbnis wurde erst 2013 von der AKP-Regierung im Zuge der Annäherung an die Kurden abgeschafft. Kemal Atatürk, das darf nicht vergessen werden, war nicht nur ein mutiger Gründer einer modernen, säkularen Republik, der Befreier der Türkei von kolonialistischen Ambitionen aus Europa, der Bezwinger der Jahrhunderte währenden islamistischen Strukturen, sowie derjenige, der das Frauenwahlrecht vor vielen europäischen Staaten einführte. Gleichzeitig war er aber auch der Verantwortliche für den Tod tausender unschuldiger Menschen und stand hinter dieser Assimilationspolitik. Eine durchaus komplexe Figur in der Geschichte der Türkei.
Die Türkisierung der Namen und Ortschaften
Ahmet Türk ist ein prominenter kurdischer Politiker. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum er einen solchen Nachnamen hat. Erst nach Recherchen erfuhr ich später, dass Ende Dezember 1934 Angehörige der Minderheiten ihre Nachnamen zu türkisch klingenden Namen umändern mussten – ob sie es wollten oder nicht. Türkische Beamte gaben den KurdInnen oft willkürliche Nachnamen, die eben zu solchen absurden Zuständen führten. Ein anderes Beispiel: Dem Namen Kelleciyan wurde die armenische Endung -yan getilgt und ein türkisch klingender Name daraus gemacht: Keleci
Der türkisch-armenische Ingenieur S. Keleci, vormals Kelleciyan, wirbt für die Türkisierung in einer Zeitung von 1938: „Armenier! Wir sollten türkische Namen annehmen, denn alles an uns ist türkisch, einschließlich das Wort Armenier, das auf türkisch „Mann” bedeutet”.
Die wichtigsten Ausschnitte aus seinem pseudointellektuellen Fundus: „Die Geschichte bezeugt, dass Armenier Türken sind. Nach meinen Untersuchungen machten Attilas (Anm. d. Red.: der Hunnenkönig) Angriffe erst im Süden Deutschlands Halt. Aus diesem Grund haben selbst viele Deutsche in Württemberg türkische Namen wie Bol, Haik, Berc und halten sich dennoch für echte Deutsche. […] Die armenische Gesellschaft, Schule, Sprache, kurzum, das Armeniertum gibt es nicht. Das Wort Armenier kommt aus dem Türkischen und heißt: „Mann”. Ist das nicht Beweis genug? Wir können unsere Rasse nicht leugnen und sollten zu unserem Ursprung, also dem Türkentum, zurückkehren.”
Der größten Minderheit, den KurdInnen, erging es nicht anders. In einem Zeitungsartikel wird erklärt, wieso es ihre Ethnie und ihre Sprache nicht gibt.
In diesem Artikel wird beschrieben, dass die Menschen in Dersim eigentlich TürkInnen seien und dass es KurdInnen und die Kurdische Sprache so nicht gäbe, sondern dass sich diese Menschen vielmehr in Bergtürkisch verständigen. Folgerichtig seien sie BergtürkInnen.
Das i-Tüpfelchen in der Assimilationspolitik war die Umbenennung der Ortschaften, Flüsse und Seen in türkisch klingenden Namen.
Beispiele der Umbenennung von Städtenamen:
Aus dem armenischen Chabakchur wurde Bingöl, aus dem griechischen Smyrna wurde Izmir, aus dem kurdischen Pîran wurde Dicle, aus dem aramäischen Merdô wurde Mardin und aus dem assyrischen Amida wurde Diyarbakir.
Der Ausblick
Die so vielfältige Türkei wurde zu großen Teilen homogenisiert, die Minderheiten vernichtet oder zwangsassimiliert. Mittlerweile leben in der Türkei nur noch 0,2% ChristInnen, 0,04% Angehörige des Judentums, ca. 70.000 ArmenierInnen, 15.000 AramäerInnen, um die 5.000 GriechInnen und weniger als 1000 JesidInnen. Bis die Türkei so weit ist, den Genozid anzuerkennen, wird es noch viel Zeit bedürfen. Doch dank jüngerer Generationen, die bei der Beschaffung von Informationen unabhängiger sind, bin ich zuversichtlich, dass diese Menschen einen Wandel im Denken erleben werden. Erst durch den Vergleich mit vielen anderen Ländern, konnte ich die historische Aufarbeitung besonders schätzen, die uns in den deutschen Schulen gewährleistet wurde. Aber auch hierzulande sollte dieses Kapitel der schrecklichen Ereignisse nicht unerwähnt bleiben, zumal das Osmanische Reich Verbündeter des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg war und man durchaus wusste, welche Gräuel die Osmanen anrichteten. Aufgrund des Bündnisses wurde allerdings darüber geschwiegen. Darüber hinaus konnten die drei Hauptverantwortlichen des Genozids – Talat, Enver und Cemal Pascha – mit einem deutschen U-Boot nach Deutschland fliehen.
Heute herrscht in der Türkei zwar keine Zwangsassimilation, nichtsdestotrotz leiden die Minderheiten weiterhin unter Repressalien. Als Beispiel können erneut die KurdInnen herangezogen werden. Es ist für sie fortwährend ein mühsamer Kampf um die Bewahrung ihrer kurdischen Identität, in dem es nicht nur um die Existenz ihrer Sprache geht. Oftmals werden ihre Kultur und Feste unter dem Vorwand der Terrorpropaganda verboten. Der Vorsitzende der pro-kurdischen Partei Selahattin Demirtaş sitzt seit über fünf Jahren in Haft, ohne dass ihm „terroristische Bestrebungen”, so die AKP-Regierung, nachgewiesen werden konnten.
Es bleibt ein langer, schwieriger Weg der Demokratisierung.