Entnazifizierung: Der Schleyer des Vergessens

Entnazifizierung einer Straße in Trier

Ob Gestapo, SS oder zivile NSDAP-Mitglieder: Viele mit einem NS-Hintergrund wie Hanns Martin Schleyer konnten ihre Tätigkeiten nach dem Krieg in Deutschland fortführen. Einige schafften es sogar auf die wichtigsten Posten des Landes. Wie konnte es dazu kommen? Fand die Entnazifizierung tatsächlich statt? Ein kleiner Überblick.

Es ist wieder soweit: Ein weltweit bekannter Musiker wird in der größten Mehrzweckhalle Baden-Württembergs auftreten und ich habe Tickets zu diesem Event. Bevor ich mich auf den Weg begebe, esse ich noch in einem Laden meines Vertrauens und fahre zunächst über die Hanns-Martin-Schleyer-Brücke in meiner Heimatstadt Esslingen auf die B10. Nach einer 15-minütigen Autofahrt komme ich auch schon in der riesigen Hanns-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart an. Wer aber ist denn dieser Schleyer, der so viel Würdigung erhält?

Hanns Martin Schleyer war Arbeitgeberpräsident und wurde am 5. September 1977 von der RAF entführt, um dadurch die Freilassung der elf inhaftierten RAF-Mitglieder zu erwirken. Die Regierung gab dieser Erpressung nicht nach, woraufhin Schleyer am 18. Oktober 1977 ermordet wurde. Am 25. Oktober wurde er dann schließlich nach einem Trauerstaatsakt, an dem die meisten führenden Politiker teilnahmen, in Stuttgart beerdigt. 

Die NS-Vergangenheit

Es gibt noch eine andere Seite von ihm, über die sich der Schleier des Vergessens ausgebreitet hat, denn er war überzeugter Nationalsozialist. Bereits 1931 trat er der Hitlerjugend, 1933 der SS bei. Aus Protest verließ er 1935 die Studentenverbindung, weil sie sich zunächst weigerte jüdische Mitglieder zu entfernen. 1937 folgte schließlich die Mitgliedschaft bei der NSDAP. 1940 diente er noch in der Wehrmacht, schied dann aber verletzungsbedingt aus der Armee aus. Er wurde erst Sachbearbeiter und avancierte später zum Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren (ZVI), die u. a. die Aufgaben der Eindeutschung/Arisierung der tschechischen Wirtschaft und der Beschaffung von Zwangsarbeitern inne hatte. Wer sich nicht mehr genau erinnert, was es mit der Arisierung auf sich hatte, dem könnte ein Beispiel aus Schleyers Leben behilflich sein. Die Villa, in der Schleyer mit seiner Frau in Prag lebte, wurde zuvor von dem jüdischen Ehepaar  Waigner bewohnt. Im Zuge der Arisierung wurden sie enteignet. Das Paar wurde deportiert und in Auschwitz ermordet. Schleyer hingegen erlangte in Prag den Rang des SS-Untersturmführers. Seine Karriere musste er aus unvermeidlichen Gründen pausieren, denn anders als von ihm erhofft, verlor das Deutsche Reich 1945 den Krieg.

Die Nachkriegszeit

Die Siegermächte kamen zu dem Entschluss, dass für die Demokratisierung Deutschlands eine Entnazifizierung in der Gesellschaft, Politik, Justiz, Wirtschaft, Bildung, Medien und weiteren Bereichen vonnöten sei. In den westlichen Zonen Deutschlands wurden den Bürgerinnen und Bürgern Fragebögen ausgeteilt, dementsprechend stufte man sie dann in Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer oder Entlastete ein. Schleyer log bei der Angabe seines Dienstgrades und ortete sich in der SS-Hierarchie weit unter seinem eigentlichen Rang ein. So wurde er nur als Mitläufer eingestuft und hatte keine Folgen mehr zu befürchten. Seine Karriere konnte er in der BRD mit einer kleinen Unterbrechung fortsetzen. Tatsächlich musste nur ein winziger Bruchteil der Nazis eine Konsequenz für ihre Verbrechen tragen. Durch Manipulation, Persilscheine, Seilschaften, aber auch Desinteresse der Bevölkerung, entkamen die allermeisten Menschen mit einem NS-Hintergrund einer Strafe und sie konnten ebenfalls ihre Karrieren, nach dem sie vorerst ausgeschlossen wurden, ebenfalls wieder aufnehmen.

Wie es zur „Renazifizierung” kam:

  1. Schlussstrichmentalität

Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss machen, denn, verlassen Sie sich darauf, wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.“ – Konrad Adenauer

Deutschland lag 1945 vielerorts in Schutt und Asche, ein großer Teil des Volkes lebte in Armut und dann kam die Entnazifizierungspolitik der Siegermächte hinzu. Verdrängen und Vergessen – darauf kam es der Nachkriegsgesellschaft vordergründig an. Nicht das millionenfache Leid der vertriebenen, gefolterten und ermordeten Menschen, die die nationalsozialistische Ideologie verursacht hatte, stand im Vordergrund, sondern das eigene Leid. Ja, ein beachtlicher Teil der Bevölkerung sah sich nun selbst als das Opfer: Nicht große Teile des Volkes, sondern einige wenige Nazi-Eliten, die die Macht an sich gerissen und die Vernichtungsmaschinerie im Alleingang betrieben hätten, hätten Deutschland dadurch ins Unheil gestürzt. So gab es zur Entnazifizierungspolitik der Alliierten u. a. deswegen größtenteils Ablehnung im Volk.

FDP-Wahlplakat in Hessen 1949: Schluss mit Entnazifizierung

Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer (CDU) zum Bundeskanzler gewählt. Er koalierte mit der FDP und der rechtsgerichteten DP.  Der konservative Adenauer hörte auf die Mehrheit des Volkes und war bestrebt, der Entnazifizierungspolitik ein Ende zu setzen.  Am 16. November 1950 stellte er in einem Aide-mémoire den Alliierten Hohen Kommissaren folgende Forderungen: 

  • Einstellung der Auslieferung von Deutschen an das Ausland 
  • Einstellung oder schnellstmögliche Beendigung aller Kriegsverbrecherprozesse 
  • Umwandlung aller noch nicht vollstreckten Todesurteile in Freiheitsstrafen 
  • Möglichst umfassende Gnadenerweise für die zu Freiheitsstrafen Verurteilten, auch für die im Ausland ihre Strafen Verbüßenden [sic].

Im Jahre 1951 endete die Entnazifizierung mit dem Ausführungsgesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes endgültig. Der Weg in den Beamtenstatus wurde somit für ehemalige NSDAP-Mitglieder, darunter auch schwer belastete, geebnet. 

  1. Der Kalte Krieg

Mit dem Beginn des Kalten Krieges waren die westlichen Alliierten nicht mehr willens, die Entnazifizierung konsequent durchzuziehen, denn die Sowjetunion stand als große Bedrohung vor der Tür. Die DDR war unter dem Einfluss der Sowjetunion bereits sozialistisch geworden, deswegen waren die Alliierten darauf bedacht, die westlichen Zonen zu stabilisieren und den Rückhalt in der Bevölkerung nicht zu verlieren, die dem kommunistischen Einfluss anheimfallen könnte. Um die Westzonen bezüglich Bürokratie und Wirtschaft zu konsolidieren, war erfahrenes Personal notwendig.  

In der Adenauer-Ära lag das Augenmerk dementsprechend weniger auf ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, sondern auf Linken, die als größere Gefahr betrachtet wurden. Die USA unterstützte Westdeutschland in der Hinsicht sowohl politisch wie auch finanziell mit dem Marshallplan, um ein solides Bollwerk gegen die sowjetische Einflusszone zu errichten. 

Wahlplakat des Deutschen Wahlblocks CDU-DP-FDP zur Landtagswahl in Schleswig Holstein 1950.
Quelle: CC BY-SA 3.0 de – CDU – Diese Datei wurde Wikimedia Commons freundlicherweise von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Kooperationsprojektes zur Verfügung gestellt.

Die Folgen

Fachleute waren unentbehrlich für den Staatsapparat und die Industrie. Auf diese Weise konnte sich Schleyer erneut in der Wirtschaftswelt eingliedern und die Karriereleiter stetig aufsteigen, bis er zuletzt Arbeitgeberpräsident wurde. In der Exekutive, Judikative und Legislative handhabte man es nicht anders. Dies führte zu einer Kontinuität, die prägende Auswirkungen hatte. In der BRD betrug allein in den Gerichtsinstanzen der Anteil jener, die zuvor im Deutschen Reich als Juristen tätig gewesen waren, über 70%. Dies hatte zur Folge, dass Juristen mit NS-Hintergrund nun keine Konsequenzen mehr befürchten mussten und viele NS-Verbrecher entweder mit keiner oder einer sehr milden Strafe davon kamen. Paul Werner Hoppe war einer von ihnen. 

Paul Werner Hoppe, SS-Obersturmbannführer, war von 1942 bis 1945 Kommandant vom KZ Stutthof und verantwortlich für den Tod Zehntausender Menschen. Insgesamt wurden im KZ Stutthof schätzungsweise 65.000 Menschen hingerichtet. Die Ermordung geschah auf vielerlei Weise: durch Giftspritzen, eine eigens errichtete Genickschussanlage, Gaskammer, Folter, Zwangsarbeit oder Aushungern. Hoppe wurde 1953 gefasst und 1957 zu lediglich neun Jahren Haft verurteilt.

Es waren bei weitem nicht nur Juristen, die sich für NS-Verbrecher stark machten. Zwei Fallbeispiele: Dr. Martin Sandberger und Herbert Kappler

Dr. Martin Sandberger, SS-Standartenführer, gehörte zu den Hauptverantwortlichen des Massenmordes im Baltikum. Mehrere Tausend Menschen fanden unter seiner Verantwortung den Tod, überwiegend Juden, Kommunisten sowie Roma und Sinti. Nach dem Krieg wurde er 1948 vom US-Militärgericht zum Tode verurteilt, was 1951 zu lebenslanger Haft geändert wurde. Es kam, wie es kommen musste. Der Massenmörder, der unzählige Erwachsene und Kinder auf dem Gewissen hatte, bekam die größte Unterstützung, die man bekommen konnte. Der Bundespräsident Theodor Heuss (FDP), der Vizepräsident des Bundestags Carlo Schmid (SPD),  der Ministerpräsident Gebhard Müller (CDU BW) und der Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP BW) und auch Württembergs Landesbischof Martin Haug setzten sich für die Freilassung Martin Sandbergs ein – mit Erfolg. Sieben Jahre später, 1958, kam er frei. Gebhard Müller setzte sich zudem als Ministerpräsident für die Euthanasie-Verbrecher Ludwig Sprauer und Arthur Schreck ein, denen er nach der gelungenen Freilassung eine monatliche Unterhaltszahlung von 450 DM bewilligte. Müller wurde einige Jahre später zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes. 

Herbert Kappler, SS-Obersturmbannführer, hatte 1943 das Kommando über die Sicherheitspolizei und den SD (Sicherheitsdienst des SS) in Rom. Er täuschte die jüdische Gemeinde in Rom mit der Zusage, dass sie nicht deportiert werden, wenn er Gold von ihnen erhalte. Er erpresste 50 kg Gold und deportierte über tausend von ihnen dennoch nach Auschwitz, wovon nur 16 überlebten. Bekannt ist er zudem für sein Verbrechen im Jahr 1944. Er organisierte das  Massaker in den Ardeatinischen Höhlen im Süden Roms, bei dem er 335 italienische Geiseln erschießen ließ. An einigen Genickschüssen beteiligte er sich. Nach dem verlorenen Krieg bekam er 1948 lebenslänglich für seine Verbrechen. Doch wieder einmal erhielt ein NS-Verbrecher Schützenhilfe aus den oberen Etagen der Macht. Zu der Unterstützung durch den Bundespräsidenten gesellte sich diesmal auch der Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), aber auch die Deutsche Bischofskonferenz so wie der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands. Sie setzten sich für die Freilassung Kapplers ein – zunächst ohne Erfolg, denn die italienische Regierung weigerte sich, den in Italien zu einer Hassfigur mutierten Mörder zu begnadigen. Nichtsdestotrotz konnte Kappler 1977 nach einem Krankenhausaufenthalt von Italien nach Deutschland fliehen.

Schlusswort

Trotz allem begann in Deutschland in den 60ern eine kritischere Auseinandersetzung mit der eigenen Historie, die sukzessive dazu geführt hat, dass Deutschland heute zu den wenigen Staaten gehört, die seine Geschichte gründlich aufarbeitet. Die historische Aufarbeitung ist nicht abgeschlossen, sondern ist ein fortdauernder Prozess. Das Beispiel des Hanns Martin Schleyer veranschaulicht in diesem Beitrag, welche Farce die Entnazifizierungspolitik war. Wir entscheiden uns bewusst für Personen, an die sich durch die Namensgebung von Straßen, Brücken, Parks und Gebäuden, erinnert, gedacht und geehrt werden soll. Mit der Benennung der Brücke und der Halle nach Schleyer, wird ein ehemaliger SS-Führer geehrt, der sich weder zu seinen Taten distanzierte noch Reue für sie zeigte. Seine Entführung und Ermordung sollte ihn nicht zu einem politischen Märtyrer erheben, der dadurch weiterhin größte Anerkennung genießt. Mein Vorschlag: Die Umbenennung der Brücke und der Halle nach dem Württemberger Johann Georg Elser. Ein wahrer Held, der selbst den Hitlergruß stets verweigerte. Einer, der bereits 1938 im Alleingang einen Anschlag auf Hitler plante und ausführte, um einen grausamen Krieg zu verhindern. Zufällig verließ Hitler den Raum frühzeitig und entkam diesem Anschlag. Elser hingegen wurde verhaftet, verhört sowie gefoltert, im KZ Dachau ermordet und anschließend im Krematorium verbrannt. Er sollte nicht vergessen werden.

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