Die NS-Vergangenheit meiner Region

Zeitungen aus den 1930ern

Ein zufälliger Fund öffnete mir die Pforte zur NS-Vergangenheit meiner Heimatregion Baden-Württemberg. Ein Überblick über vergessene Seiten einer vergessenen Zeit.

Durch die Sanierung eines Hauses, erhielt ich zusammengerollte, alte Zeitungen, die als Fensterabdichtungen fungierten. Sie waren in einem miserablen Zustand. Nichtsdestotrotz konnte ich beim Aufrollen Einblicke in eine Zeit gewinnen, die längst in Vergessenheit geraten ist. Zwei Artikel aus der Esslinger Zeitung von 1934 werden im Folgenden näher beleuchtet, die zum einen die NS-Euthanasie, zum anderen das Heldengedenken thematisieren.

NS-Euthanasie und Eugenik

An einem kühlen Mittwochabend in Esslingen am Neckar, die für ihre idyllische historische Altstadt bekannt ist, hielt der Ministerialrat Dr. Stähle vor den Esslinger Bürgerinnen und Bürger eine Rede über die „Rassenpflege”. Die Rede über die Rassenhygiene bzw. die Eugenik in ihrer ökonomischen und sozialdarwinistischen Form, fand im einstigen Kugels Festsaal statt.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich in Europa und in den USA die Idee der unterschiedlichen Menschenrassen. Die sogenannte weiße, arische Rasse solle demnach die überlegene Rasse sein. Die Nationalsozialisten waren nach der Machtergreifung bedacht darauf, das Erbgut der arischen Rasse, das sie mit dem deutschen Volk gleichsetzten, rein zu halten — sei es mithilfe der Nürnberger Gesetze von 1935, wodurch die vermeintlich minderwertige „jüdische Rasse” die Qualität des Erbgutes der arischen nicht vermindern solle, oder aber auch bereits früher mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses”, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Durch dieses wurden Hunderttausende Menschen mit körperlicher
oder geistiger Behinderung, „Asoziale” und Alkoholiker zwangssterilisiert.

In der lokalen Tageszeitung, die nicht gefeit von der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten war, wurde zu dieser Konferenz eingeladen. Über dieses Gesetz handelt ebendieser Zeitungsartikel mit dem Titel „Warum Rassenpflege” vom 5. Februar 1934.

Darin wird die Wichtigkeit des Gesetzes
bezüglich der Rassenhygiene hervorgehoben und dazu aufgerufen, sich mit diesem „neuen Gedankengut vertraut” zu machen, um “am
Wiederaufbau des Volkes” mitarbeiten zu können. Der Wiederaufbau des Volkes heißt in diesem Kontext nichts anderes, als dass mit der “positiven Eugenik” die „hochwertigen” Gene erhalten und vermehrt, mit der „negativen Eugenik” hingegen die Verbreitung der „minderwertigen” Gene verhindert werden sollte.

Der Ministerialrat Dr. Eugen Stähle (1890-1948), der die Gäste über die Rassenhygiene unterrichtete, war niemand geringerer als der Euthanasie-Leiter in Württemberg. Unter seinem Kommando blieb es nicht bei der Zwangssterilisation, sondern es begann der Massenmord. Im Rahmen des NS-Euthanasie-Programms „Aktion T4” wurden im Schloss Grafeneck in Württemberg über 10.600 Männer, Frauen und Kinder, die in die Kategorie „lebensunwert” fielen, durch Vergasung — das Gas wurde von der IG Farbenindustrie, heute BASF, geliefert — oder mit Giftspritzen ermordet und anschließend im Krematorium vor Ort verbrannt.

Das Morden kündigte Hitler bereits 1929 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg an: „[…] (dass die) Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung“.

Trotz größter Anstrengung um die Geheimhaltung der „Aktion T4”, erfuhr die
Öffentlichkeit vom zügellosen Morden der Nazis. Zu den Unmutsäußerungen
gesellten sich auch Kirchenvertreter, denen Dr. Stähle mit folgenden Worten
entgegnete: „Das 5. Gebot: Du sollst nicht töten, ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung.“ Nach zunehmender Kritik aus der Bevölkerung wurde die „Aktion T4” offiziell auf Geheiß Hitlers für beendet erklärt. Im Geheimen ging das Morden indessen weiter — in anderen Tötungsanstalten.

Nach dem Krieg wurde Stähle verhaftet und starb 1948 als Untersuchungshäftling. Der Euthanasie-Leiter Badens Ludwig Sprauer, der Tausende von Menschenleben in Grafeneck verantwortet, wurde zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Ministerpräsident Baden-Württembergs Gebhard Müller setzte sich allerdings für seine und die des Euthanasiearztes Arthur Schrecks Freilassung ein, denen er nach der
gelungenen Freilassung eine monatliche Unterhaltszahlung von 450 DM bewilligte. Die Opfer der NS-Euthanasie erhalten im Zusammenhang der Erinnerungskultur in Deutschland zu wenig Beachtung. Dies sollte sich dringlich ändern, in der Hoffnung, dass auch diesen Menschen vermehrt gedacht wird. Zudem darf nicht vergessen werden, welche Farce die Entnazifizierung war, die am Beispiel Ludwig Sprauers und
Arthur Schrecks deutlich wird.

Volkstrauertag und Heldengedenken

Nach dem Ersten Weltkrieg beschloss das Deutsche Reich den Volkstrauertag einzuführen, um an die Gefallenen des Krieges zu erinnern. Der Name war Programm: Das Gedenken in Trauer sollte das Leid des Krieges vor Augen führen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfuhr der Volkstrauertag 1934 eine Glorifizierung. Aus Volkstrauertag wurde Heldengedenktag, aus gefallenen deutschen Soldaten wurden Märtyrer, aus Leid wurde Pathos, aus Trauer wurde Heldentum.

Der nächste Zeitungsartikel von 1934 mit dem Titel „Das Opfer unserer Helden war nicht umsonst” handelt von der Verklärung dieses Gedenktages.


Angefangen damit, dass der „Staat von
Weimar” als ein unterwürfiger Staat
bezeichnet wird, der vom „deutschen
Heldenideal” nichts wisse, wird
anschließend beschrieben, dass sich
nun ein „neues Deutschland” gebildet
habe, die an das „ruhmvolle Vorbild” der Millionen von gefallenen deutschen
Soldaten am Heldengedenktag erinnere.
Darüber hinaus wird das große Ziel der
Nationalsozialisten vor Augen geführt,
nämlich, dass man unter „geistiger
Umwandlung” den “deutschen
Menschen des dritten Reiches formen”
will, damit die Volkwerdung sich
vollziehen könne.

Geschichtsklitterung ist seit jeher gängige Praxis rechtsextremer Personen, wie in diesem Artikel zur Schau gestellt. Im pathetischen Duktus wird das entbehrliche große Leid als vorbildliches Verhalten deklariert, damit Deutschland nicht untergehe. Hierdurch findet eine Umwertung statt: Der Angriffskrieg wird zu einem Verteidigungsakt erklärt. Die Leserinnen und Leser werden in diesem Artikel durch revanchistische Gelüste und romantisiertes „Heldensterben” zur Kampfbereitschaft animiert.

Bereits fünf Jahre später begann das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg und wenig später mit dem Holocaust, die millionenfaches Sterben zur Folge hatten. Nach der Niederlage des Krieges wird seit 1950 in der Bundesrepublik wieder am Volkstrauertag den Kriegsopfern gedenkt. Dieser Tag gilt der Trauer, aber auch der Versöhnung. Wie einst die Nationalsozialisten die Weimarer Republik und den Volkstrauertag
verachteten, so führen die deutschen Rechtsextremen heute jenes Weltbild fort, indem sie ihre Verachtung für die Bundesrepublik Deutschland äußern und erneut einem Märtyrerkult frönen. Am Volkstrauertag gedenken sie im Rahmen des Heldengedenkens in martialischer Manier an jene Menschen, die im Kampfe für NS-Deutschland starben.

Es sind dabei nicht nur Rechtsextreme, die eine verquere Erinnerungs- und
Gedenkkultur pflegen.

Mit dieser Gedenktafel im Ulmer Münster, der größten Kirche Deutschlands, werden nicht etwa an die Millionen unschuldigen Opfer des Deutschen Reiches erinnert, sondern die verstorbenen Wehrmachtssoldaten geehrt, die den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands führten. Bundesweit sind derlei problematische Denkmäler aufzufinden, die unkommentiert nicht den Opfern, sondern den Tätern gedenken.

Schlusswort

Diese zwei ausgewählten Zeitungsartikel zeigen uns auf, wie sehr es doch einen Nachholbedarf in der Erinnerungskultur benötigt. Wenn wir uns
Erinnerungsweltmeister nennen wollen, kommen wir nicht umhin, uns intensiver mit den einzelnen Aspekten der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten auseinanderzusetzen, um dann die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Zumal die Rolle des Deutschen Reiches am Genozid an Armenierinnen und Armenier im Osmanischen Reich sowie am Völkermord an Herero und Nama in der Gesellschaft bisher noch weniger bekannt ist.

Besonders Schülerinnen und Schüler, aber auch Erwachsene werden einen
einfacheren Zugang zum Themenkomplex Nationalsozialismus sowie dessen
Auswirkungen bekommen, wenn sie einen regionalen Bezug herstellen können. Um eine Identifikation zu ermöglichen, sind historische Zeugnisse aus der Region, insbesondere die lokale Zeitung, von eminenter Wichtigkeit.

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